Das Vergangene sichtbar machen
Deutschland ist bunt. In jeglicher Hinsicht. Wir sind bekannt für unsere Werte, weltoffen und tolerant. Die Gastfreundschaft, das touristische Angebot und der Reichtum an kulturellen Ressourcen zeichnet unser Land im Herzen Europas aus. Unsere Republik ist Reiseweltmeister und wird Jahr für Jahr von mehr Touristen aus aller Welt besucht, die sich an den Sehenswürdigkeiten ergötzen, die kulturelle Vielfalt erleben und künstlerisch inspirieren lassen. Abseits der Touristenpfade jedoch kann man die Geschichte des Übergangs vom traditionellen Handwerk bis zur maschinellen Massenproduktion, der Wirtschaftswundergesellschaft, Medizin- und Kulturgeschichte, den Kalten Krieg und die Teilung unserer Republik besser erleben, als in jedem Tourismusguide oder Museumsführer. Tausende Bauwerke, von denen viele heute zwar ruinös, aber dennoch existent sind, verdeutlichen eindrucksvoll unsere vielseitige Architekturgeschichte von der karolingischen Renaissance bis in das Zeitgenössische. Bauwerke, die noch heute führenden Architektur- und Ingenieurbüros als Anreiz dienen.
Leider ist es schnell vorbei mit unserer Toleranz, wenn es um die Vergänglichkeit nicht mehr genutzter Bauwerke – sogenannter “Lost Places” geht. Der Deutsche beschäftigt sich nicht lange mit allem Alten und der verknüpften Geschichte. Gerade bei historischen Bauwerken und deren Substanz stehen die Zeichen eher auf Abbruch als auf Erhalt. Für viele ist die Geschwindigkeit des urbanen Wandels heute selbstverständlich. Aus ehemals strukturierten Betrieben werden überteuerte Wohnquartiere, dicht an dicht. Dort wo jetzt Parks, Hochhäuser und Wohn- und Geschäftsgebäude das Stadtbild prägen, thronten früher gigantische Industriebauten, sakrale Heilstätten, anmutende Schlösser und Herrenhäuser oder Militärgelände, die als Stadt in der Stadt autark funktionierten. In den Großstädten beobachtet man seit Jahren eine explosionsartige und monumentale Umwälzung, angepasst an die globale Weltwirtschaft, in den Randgebieten und Ortschaften den Niedergang – bedingt durch den demografischen Wandel.
“Wir begreifen die Ruinen nicht eher, als bis wir selbst Ruinen sind.” – Heinrich Heine
Wir können die Vergänglichkeit und das Sterben unserer aufgegebenen Bauwerke nicht aufhalten oder verhindern, wohl aber fotografisch dokumentieren – quasi einfrieren – und zumindest virtuell an dessen ehemalige Existenz erinnern. Das Onlinemagazin www.rottenplaces.de beschäftigt sich seit Jahren redaktionell mit der fotografischen und geschichtshistorischen Dokumentation und Archivierung verfallener, denkmalgeschützter und nicht-denkmalgeschützter Bauwerke sowie der Industriekultur in Deutschland. Es ist gleichzeitig das erste und einzige Spezialmagazin, das diese Themenbereiche abdeckt, verknüpft und mit tagesaktuellen Nachrichten zu den Ressorts ergänzt. Hunderte ehemalige “Lost Places”, aber auch überflüssig gewordene Bauwerke haben hier bereits eine virtuelle, ewige “Ruhestätte” bekommen – Tendenz steigend. Was der Mensch erbaut hat, zerstört er meist, wissentlich oder unwissentlich. Das Ziel ist also auch, die Bauwerke nach ihrem Verschwinden nicht nur für die Nachwelt anhand von Fotografien und Dokumentationen erlebbar zu machen, sondern immer an dessen ehemalige Existenz zu erinnern.
Es sind starre Bilder einer schnelllebigen Welt, die die Explosion der Städte, den Bauboom, die urbane Veränderung, aber auch das Verschwinden ganzer Ortschaften näherbringen und die Vergänglichkeit schonungslos sichtbar machen. Bilder, die zum einen verstörend, zum anderen aber auch faszinierend wirken. Immer wieder ist es die Schönheit des Verfalls, die Poesie der Vergänglichkeit und die surreale Umgebung, die in Lost Places vorherrscht, die infiziert. Dieses virtuell erlebbar zu machen, verändert die Einstellung und den Umgang mit verfallener Substanz. Verwilderung, Rost, Staub, Moos, eindringendes Wasser, poröse Böden und Decken, abplatzender Putz, herunterhängende Tapeten, jene Gegebenheiten sorgen für teils skurrile, faszinierende aber auch bizarre Motive. So manchem geistern bei diesen Motiven die unterschiedlichsten Geschichten im Kopf umher. Die Motive, die entstehen, spiegeln aber auch die Kontroverse zwischen den morbiden, verfallenen, vergangenen Situationen und unser oft schnelllebigen und gefühlt zügellosen, sich permanent verändernden Welt wieder.
Einen speziellen oder ganz besonderen Lost Place hervorzuheben kann man nicht – zumindest aus unserer Sicht. Denn jeder ist auf seine Art besonders und einzigartig. rottenplaces.de schenkt jedem Bauwerk deshalb seine ganz besondere Aufmerksamkeit. Ob kleines Jugendstilgebäude, ehemaliges Kulturhaus oder Kino, Heilstätte, Kaserne oder Industriebetrieb – im Onlinemagazin wird jedes Objekt ein “Teil des Ganzen” und somit aufwendig dokumentarisch erfasst. Der Charme des Vergänglichen wie auch die Ehrfurcht vor einst strukturierten Betrieben, deren Nutzungszwecken sowie unterschiedlichsten, architektonischen Sichtweisen verbietet ein Ranking. Natürlich kann man hier Perlen wie die Mandaukaserne in Zittau, die Beelitzer Heilstätten, das Stadtbad wie auch das Hotel Astoria und die Maschinenfabrik Swiderski in Leipzig, die Bärenquell-Brauerei oder das Stadtbad in Berlin und viele andere in einem Atemzug nennen, aber die Sichtweisen sind bekanntlich Geschmacksache.
„Ruinen sind keine Schandflecke. Sie zeugen von Wohlstand und Erfindergeist, erzählen Geschichten, hören wir zu. Behandeln wir sie stets respektvoll.“ – André Winternitz
Altes und Vergangenes muss heute nicht modernen und komplexen Bauvorhaben oder Multi-Millionen-Projekten weichen. Es sind die Visionen der Stadtplaner und Architekten, die unsere “Zeitzeugen” – sofern technisch und wirtschaftlich möglich – integrieren sollten und müssen. Dies ist so bereits mehrfach beispielhaft geschehen, z. B. bei der ehemaligen Malzfabrik in Halle (Saale), wodurch eine Sanierung Wohnungen, Freizeit, Kultur, Gewerbe und Einzelhandel eingezogen ist und einziehen wird. Auch in Berlin beim Konsumquartier in Lichtenberg, der einstigen Back- und Wurstfabrik der Konsum-Genossenschaft werden Wohn- und Gewerbeflächen entstehen. Auch das weitläufige Areal der ehemaligen General-Olbricht-Kaserne in Leipzig erfährt über die nächsten Jahre einen wahren Sanierungsboom der Altbauten. Moderne Planungs- und Architekturbüros haben sich auf solche hochkomplexen Projekte spezialisiert und bereits zahlreiche Musterbeispiele geschaffen. Immer mehr ehemalige Betriebsgebäude – gerade bei ehemaligen Industriebetrieben – werden unter Beachtung des Denkmalschutzes erhalten und zu gewerblichen sowie Wohnzwecken umgenutzt.
Trotz allem ist das Thema Denkmalschutz bei aufgegebenen und verwahrlosten Objekten oder ganzen Liegenschaften häufig ein schwacher Schutz. Die Fronten zwischen Kommunen, Investoren und Eigentümern sind, je größer ein Bauvorhaben, größtenteils verhärtet – die teilweise skurrilen Ansichten und Vorhaben lassen ganze Projekte sterben. In Nordrhein-Westfalen beispielsweise wurde nach dem Zechensterben ein Großteil der Betriebe förmlich dem Erdboden gleichgemacht. Selbst vor den Fördergerüsten machte man nicht halt. Was für die Einheimischen als Wahrzeichen und somit ortsprägend gesehen wurde, war ein Dorn im Auge der Investoren und Planer, die jeden Quadratmeter anderweitig nutzen wollten und dafür jegliche Genehmigungen bekamen. In den neuen Bundesländern gab es nach der Wende bis heute die Abbruchwut bei ehemals namhaften Industriebetrieben. Industrie- und Handwerksbetriebe wurden zu DDR-Zeiten zu Volkseigenen Betrieben umgewandelt. Von den ehemals mehren tausend Betrieben dieser Art gibt es heute nur noch wenige Überbleibsel. Die Betriebe, die man ab 1989 nicht um- bzw. weiternutzen oder modernisieren konnte, riss man ab oder überließ sie ihrem Schicksal.
Durch die Umnutzung bereits bebauter Areale werden städtebauliche und historische Zusammenhänge erhalten oder wiedergewonnen und damit die Versiegelung unbebauter Flächen (Brownfields) vermieden, jedoch ist dies eher die Ausnahme. Es wäre wünschenswert, wenn jeder, der sich in gewisser Art und Weise – ob Kommune, Investor Architekt, Planer oder ähnliche – mit verlassenen Orten beschäftigt, mehr Ehrfurcht und Respekt walten lässt. Denn ob Anwohner, Fotograf, Projektierer oder Realisierer – alle bewegen sich auf historischem Grund. Sie bewegen sich an Orten, an denen zu aktiven Zeiten Blut, Schweiß und Tränen geflossen sind, wo Glückseligkeit und Schicksale nahe zusammenhingen, wo Wohlstand und Armut gleicherweise regierten. Diese Orte müssen sicht- und erlebbar gemacht werden, heute und in Zukunft – in erster Linie durch das Onlinemagazin rottenplaces.de.
Definition “Lost Places”
Der Begriff “Lost Places” ist ein Scheinanglizismus und bedeutet vereinfacht gesprochen „vergessene oder verlassene Orte“. Orte, die meistens von den Eigentümern vernachlässigt, für viele Menschen in der Umgebung ein Schandfleck und für die Städte, Kommunen und Gemeinden eine Belastung sind. Fast jeder stößt bei der Fahrt durch eine Stadt oder einen Ort irgendwann unweigerlich auf einen verlassenen Ort – einen Lost Place. Diese Orte sind nicht touristisch erschlossen, der Allgemeinheit nicht zugänglich und geben dem Besucher die Möglichkeit, die vorherrschende, authentisch-historische Atmosphäre zu erleben. Fotografen haben seit Jahren Lost Places für sich entdeckt, sei es für Auftragsarbeiten, Mottoshootings oder die Werbung. Hier haben die Fotografien meistens einen künstlerischen Aspekt. Dazu kommen die Architekturfotografen und jene, die als Hobbyhistoriker dokumentierend ihre Bilder fertigen – dies ist der dokumentarische Aspekt. Es ist die Schönheit des Verfalls und die surreale Umgebung, die in Lost Places vorherrscht, die begeistert und die durch die Fotografien sichtbar gemacht wird. Und nicht nur die Anzahl der Fotografen ist gestiegen, auch die Vielfalt der Motive hat sich kontinuierlich verändert – weltweit.